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Lager machen krank

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„Diesen Menschen wurde systematisch über Jahre die Chance genommen, ein menschenwürdiges Leben zu führen.“ – Martin Binder, Arzt1

Lager Kara Tepe 2

Nach dem Brand im Lager Moria im September 2020 wurde von den griechischen Behörden schnell ein neues Lager auf der Insel Lesbos in Griechenland aufgebaut, Kara Tepe 2. Hier sind sechseinhalb- bis siebentausend Menschen in Zelten untergebracht, davon 2000 Kinder.

Das Lager steht auf einem ehemaligen Militärgelände, der Boden ist deshalb teilweise mit Blei kontaminiert.

Es gibt Zelte für alleinstehende Männer und Familienzelte. Wenn es regnet, stehen die Zelte unter Wasser. Es gibt keine Heizung. Alles ist feucht, die Kleidung trocknet nur schlecht. Schlafsäcke, Decken und Kleidung sind im ausreichenden Maß vorhanden, aber das Problem ist die Verteilung der Sachen.

Die hygienischen Zustände sind eine Katastrophe! Es gibt ca. 200 mobile Toilettenkabinen, das heißt, 32 Personen teilen sich eine Toilette. Die mobilen Toiletten werden zweimal am Tag von Hilfsorganisationen (NGOs) geputzt.  Bei windigem Wetter fallen sie um und die Menschen fürchten sich deshalb, sie bei Wind zu benutzen. Für Menschen mit einem Handicap oder schwangere Frauen sind die Toiletten schwierig zu nutzen.

Sie sind so eng, dass Kinder nicht mit ihrer Mutter oder ihrem Vater zur Toilette gehen können. Die kleinen Kinder haben deshalb Angst, sie zu benutzen, und wissen auch nicht, wie sie damit umgehen sollen. In den Kabinen und darum herum liegt deshalb Kot.

Es gibt nur 36 Duschen für alle Lagerbewohner:innen. Die Duschkabinen sind ebenfalls so eng, dass nur eine Person darin stehen kann. Ihr stehen zwei Eimer kaltes Wasser und eine Duschzeit von sieben Minuten zur Verfügung. Wegen der beengten Verhältnisse in den Duschkabinen bleibt das Wasser nicht sauber und es verbreiten sich unter den Bewohner:innen des Lagers Hautkrankheiten wie Krätze („Scabies“).

Strom steht den Menschen in etwa zwölf von vierundzwanzig Stunden zur Verfügung. Aber viele Familien haben Angst, den Strom zu nutzen. Das Stromsystem im Lager funktioniert nicht gut und es passiert oft, dass Zelte in Brand geraten. Feuerlöscher sind Mangelware. Die Stromversorgung bricht außerdem oft zusammen und reicht nicht aus, um Heizgeräte zu versorgen. Bei dem Versuch, stattdessen Gasbrenner zum Heizen zu nutzen, ziehen sich manche Bewohner:innen Brandwunden zu.

Das griechische Militär liefert zweimal am Tag Essen. Eine Verteilung findet am Morgen statt, die zweite am Nachmittag. Es gibt kaltes, abgepacktes Essen in der Aluschale und fast jeden Tag ist es das gleiche. Die Qualität des Essens ist schlecht und viele Menschen klagen über Bauchschmerzen nach dem Verzehr. Teilweise verteilen die NGOs zusätzlich Obst und Gemüse an die Bewohner:innen. Die Menschen stehen bis zu zwei Stunden in der Schlange, um Essen zu bekommen.

Die Kinder verbringen ihre Zeit damit, im Lager herumzulaufen. Sie gehen nicht zur Schule und es gibt auch keine anderen Angebote für sie. Dies ist auch bedingt durch die Corona-Maßnahmen.

Kara Tepe 2 ist kein geschlossenes Camp, das heißt, die Bewohner:innen dürfen das Lager verlassen. Es dürfen aber immer nur 1000 Menschen pro Tag für 3 bis 4 Stunden heraus und sie müssen bis 20 Uhr zurückgekehrt sein. Sonntags dürfen die Bewohner:innen nicht das Lager verlassen, die offizielle Begründung dafür ist: „Die Griechen wollen auch mal ihre Ruhe haben.“

„Ich bin jeden Tag aufs Neue hin- und hergerissen zwischen dem Gefühl, schneller arbeiten zu müssen, weil noch so viele Menschen draußen warten, und dem Anspruch, mir Zeit für jeden Einzelnen zu nehmen.“ – Martin Binder, Arzt1

Gesundheitliche Lage

Die Bewohner:innen des Lagers haben zunächst einmal alle Krankheiten, die man hier auch kennt, seien es Kopf- oder Bauchschmerzen, Husten, Schnupfen und Erkältungskrankheiten. Viele haben aufgrund ihrer angespannten Situation, aufgrund der permanenten Feuchtigkeit und des  Schlafens in Zelten Glieder- und Rückenschmerzen.

Durch die schlechten hygienischen Verhältnisse werden Krätze und Läuse hervorgerufen.

~20%  leiden unter Krätze, ~80% leiden unter Läusen 

Die Krätze ist äußerst schmerzhaft. Die Krankenpflegerinnen können nur die Symptome behandeln, sie versorgen die offenen Wunden. Um die Krätze wirksam zu bekämpfen, müssten alle Bewohner:innen des jeweiligen Zeltes behandelt werden, die Kleidung und die Schlafsäcke müssten komplett ausgetauscht werden. Das ist einerseits ein logistisches Problem, andererseits ist es auch für viele Menschen in den Lagern ein Problem, ihre Sachen, die sie bekommen haben, wieder abgeben zu müssen

Ähnlich sieht es bei der Bekämpfung der Läuse aus. Läusemittel sind im ausreichenden Maße vorhanden, aber das allein ist nicht genug. Die Kleidung muss dafür komplett ausgetauscht werden, ein Abkochen der Kleidung ist nicht möglich, da es keine Waschmaschinen und nur kaltes Wasser in Waschtrögen gibt. Auch das Auswaschen der Haare nach dem Auftragen des Läusemittels ist in den engen Duschen ein Problem.

Der größte Mangel liegt im Bereich der psychologischen Betreuung. Der psychologisch-psychiatrische Dienst der griechischen Behörden handelt erst, wenn sie den Menschen vom Baum schneiden oder aus dem Wasser fischen. Hilfe folgt erst dann, wenn der Suizidversuch schon erfolgt ist. Selbstverletzung und das Äußern von Suizidgedanken gehören zur Tagesordnung.  – Martin Binder, Arzt1

Mehr als die Hälfte der Bewohner:innen haben psychische Probleme, auch die Kinder. Sie haben Schlafprobleme, Panikattacken oder Aggressionen. Die Menschen sind traumatisiert von dem, was sie vorher erlebt haben. Die Kinder sind Kriegskinder, sie haben teilweise Verwandte sterben sehen. Dazu kommen die Belastungen des Lagerlebens. Die Frauen fühlen sich im Lager nicht sicher, weil es immer wieder Fälle von Vergewaltigungen gibt. Allgemein herrschen bei den Bewohner:innen Gefühle wie Perspektivlosigkeit, Frust und Druck vor. Sie haben Angst vor der Vergangenheit und vor der Zukunft. Die Sorge ist groß, dass ihr Asylantrag abgelehnt wird. Die Erwachsenen sind teilweise apathisch und hegen Suizidgedanken.

Sogar einige Kinder denken an Suizid. Die Kinder werden – wegen der Corona-Maßnahmen – nicht mehr gefördert. Es gibt keine festen Einrichtungen für sie im Camp. Sie haben nichts zu tun.

Erste Anzeichen von psychischen Problemen werden von den Mediziner:innen oft in der Sprechstunde der Erstversorgung („Primary care“) erkannt: Die Menschen haben dauerhaft Kopf- oder Magenschmerzen, die nicht auf eine körperliche Erkrankung zurückzuführen sind. Die Patient:innen werden dann an Psycholog:innen der Organisation „Medical Volunteers International e.V.“ weiterverwiesen, die ihre Behandlungsräume außerhalb des Lagers haben. Aber die Warteliste ist lang und die Menschen müssen drei bis vier Wochen auf ihren ersten Termin warten.


„MEDICAL VOLUNTEERS INTERNATIONAL E.V.“

…ist eine NGO mit Sitz in Hamburg. Ein Team aus Ärzt:innen, Psycholog:innen, Physiotherapeut:innen und Krankenpflegerinnen hilft bei der medizinischen und psychologischen Versorgung der Menschen.

Die Mediziner:innen engagieren sich freiwillig, das heißt, sie bekommen kein Entgelt für ihre Arbeit. Sie bezahlen ihre Anreise und ihre Unterkunft selbst. Das Team „Primary Care“, das für die Erstversorgung der Kranken zuständig ist, besteht zur Zeit aus 16 Mediziner:innen, darunter 7 Ärzt:innen, 5 Krankenpflegerinnen, 2 Studierende und 2 Koordinator:innen. Im Bereich der Physiotherapie arbeiten 2 Physiotherapeut:innen.

Die Freiwilligen kommen im Durchschnitt für 3 bis 4 Wochen. Die medizinische Behandlung der Menschen findet in einem Zelt statt, die Anmeldung erfolgt über ein Nummernsystem. Wenn es notwendig ist, macht das Team auch „Hausbesuche“.

Das Team „Mental Health Project“ kümmert sich um die psychischen Krankheiten. Aktuell arbeiten hier 4 Psycholog:innen für Erwachsene und 3 für Kinder. Sie können 3 bis 4 Monate bleiben, da es Zeit braucht, bis das Vertrauen zwischen ihnen und den Patient:innen aufgebaut ist. Es gibt verschiedene Gruppen für Erwachsene und Kinder. Die Kinder machen in der Regel eine Spieltherapie. Die vier Behandlungsräume befinden sich außerhalb des Lagers.

Wofür spenden ?

In erster Linie wird Geld für Medikamente und medizinische Hilfen benötigt: Für die Physiotherapie braucht die Organisation Massageliegen und Handtücher, für das Projekt „Mental Health“ Medikamente und Spielzeug.

Wenn die Freiwilligen in Griechenland ankommen, müssen sie zunächst für 7 Tage in Quarantäne. Dafür müssen Wohnungen angemietet werden.

Weiterhin wird Geld benötigt zur Bezahlung von Mietwagen und zur finanziellen Unterstützung der Koordinator:innen. Da die Koordinator:innen dauerhaft im Lager arbeiten, bezahlt die Organisation ihnen ihre Wohnung und gibt ihnen ein monatliches Taschengeld in Höhe von 500 Euro.

Seebrücke-Osnabrück fordert eine Abschaffung solcher Lager! Solange dies noch nicht geschehen ist, brauchen die Menschen dort unsere Unterstützung!








Die Informationen über die derzeitige Situation im Lager Kara Tepe 2 erhielten wir durch ein Gespräch mit Kai Wittstock, dem Gründer und Team-Koordinator von Medical Volunteers International. Das Interview führten wir im März 2021.

Die Zitate entstammen einem Zeitungsartikel der TAZ, in dem der Arzt Martin Binder über seine Erfahrungen während seiner ehrenamtlichen Arbeit auf Lesbos berichtet1.

1 Binder, M. & Köhler, C. (2021, 16. April). Arzt über das Lager Kara Tepe auf Lesbos: „Es ist ein Gefangenenlager“. TAZ Verlags- und Vertriebs GmbH. https://taz.de/Arzt-ueber-das-Lager-Kara-Tepe-auf-Lesbos/!5760664/

Empfehlungen für Quellen, über die man sich noch informieren kann:

 maintower. (2021, 25. Februar). Was wurde aus den Flüchtlingen von Moria? [Video]. hr-fernsehen.de. https://www.hr-fernsehen.de/sendungen-a-z/maintower/sendungen/was-wurde-aus-den-fluechtlingen-von-moria,video-144688.html

#LeaveNoOneBehind-Info. (2021, 24. Februar). Telegram. https://t.me/LeaveNoOneBehindInfo/246

STRG_F. (2021, 12. Januar). Leid auf Lesbos: Die gewollte Katastrophe? | STRG_F [Video]. ARD-Mediathek. https://www.ardmediathek.de/video/strg-f/leid-auf-lesbos-die-gewollte-katastrophe-strg-f/funk/Y3JpZDovL2Z1bmsubmV0LzExMzg0L3ZpZGVvLzE3MjkzNDE/ Amnesty International. (2021, April). Amnesty Report. Regionalkapitel Europa und Zentralasien 2020. Rechte von Flüchtlingen und Migrant_innen.

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